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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
7.November 2006 -
Flucht
Aus
dem Englischen von Gabriele Podzierski Nur 10 Tage haben wir der Insel den Rücken gekehrt und finden sie doch bei unserer Heimkehr in einer völlig anderen Jahreszeit vor. Wir reisten ab bei herrlichstem Herbstwetter, und jetzt wurden wir empfangen von winterlichen Temperaturen. Der Unterschied hätte noch krasser sein können, wenn wir einen Tag früher einen Halt auf der Nachbarinsel Limnos gemacht hätten. Dort lag
bereits der erste Schnee, während in Mytilini nur vereinzelt die Flocken tanzten. 2 Tage mit heftigsten Stürmen und Regenfällen sind uns erspart geblieben, ebenso der frühe Kälteeinbruch, denn bereits am Morgen nach unserer Rückkehr stiegen die Gradzahlen wieder an, und nach 2 Tagen war Lesvos wieder so, wie wir es verlassen hatten. Jedoch war für einige Pflanzen, die leichten Nachtfrost nicht vertragen, die Saison vorbei.
Ach, es ist schon wirklich ein schönes Gefühl, wieder hier zu sein, nach all dem Rummel in Holland. Nicht nur, dass die Niederlande so voll von Menschen sind, die Leute sind auch alle so unbeschreiblich geschäftig. Und auch wenn man sagen kann, dass dort alles wohl durchorganisiert ist, eine Lösung zur Vermeidung von Verkehrsstaus und übervolle Terminkalender hat man immer noch nicht gefunden. Vor diesem stressigen Leben sind wir damals geflohen, was uns
jedoch noch nicht zu Flüchtlingen macht. Die stranden in immer größerer Zahl auf Lesvos. Kurz vor unserer Abreise ereignete es sich, dass Angelos und seine Frau Petra (von der Taverne „Anatoli“) durch nächtliches Klopfen und Rufen aus dem Schlaf schreckten und vor der Tür eine kleine Gruppe völlig durchnässter Männer vorfand, die um Hilfe baten. Nur knapp hatte einer dieser 5 Flüchtlinge aus Pakistan oder Afghanistan die Flucht über die stürmische See überlebt. Angelos leistete zunächst Erste Hilfe, indem er den durchgefrorenen Körper des Mannes mit Ouzo einrieb, ihm heißen Tee einflößte und auch die
anderen mit Essen und trockener Kleidung versorgte. Die Männer erzählten, dass sie 2000 Euro für die gefährliche Überfahrt von der Türkei nach Lesvos aufbringen mussten. An der griechischen Grenze (inmitten des Meeres) setzte man sie in ein Schlauchboot (!), in das vorher Löcher gestochen worden sind, so dass sie all ihre Kräfte aufbringen mussten, um so schnell wie möglich, unbeschadet das Festland zu erreichen. Da die
Touristen nun nicht mehr da sind, fallen die Flüchtlinge sofort auf der Straße auf. Fast täglich sieht man sie zwischen Molyvos und Mandamados. Einigen von ihnen wurde bei ihrer Flucht mit einem Schiffs- oder Flugticket „geholfen“ (ich setze dieses Wort bewusst in Klammern, denn es ist doch wohl Fakt, dass man mit diesen Menschen Profit machen kann). Um das nötige Geld aufbringen zu können, ist es nicht selten, dass manch einer zum Drogendealer oder Schmuggler wird. Letztes Jahr nahm man Flüchtlinge fest, die dadurch auffielen, dass ihre Schuhsohlen ungewöhnlich hoch waren: sie waren mit Heroin
bestückt. Es wird gesagt, dass es unter den Flüchtlingen auch Terroristen gäbe. Es scheinen also nicht nur die Armen der Ärmsten zu sein, die hier auf Lesvos ankommen. Die Sicherheitsvorkehrungen auf den Flughäfen sind in der letzten Zeit in rasantem Tempo verstärkt worden, besonders, was das Gepäck betrifft. Von den Passkontrollen kann man das nicht sagen. Im Oktober, als die Passagiere (unter ihnen auch Jan) auf dem Athener Flughafen auf das Boarding für ihren Flug nach Amsterdam warteten, holten Polizisten mit
gezückten Pistolen und Gewehren Männer von der Rampe der Maschine, nachdem diese es mit gefälschten Pässen bis dorthin geschafft haben. Letzten Sonntag, als wir unseren Flieger von Athen in Amsterdam landen sahen, ein ähnliches Bild: Auch hier stand eine Abordnung der Polizei bereit und erwartete eine Gruppe Passagiere, die mit falschen Pässen reisten. Ja, da fragt man sich doch, wie schaffen diese Leute es, an der Passkontrolle vorbei und unbemerkt so weit in den Flughafen vorzudringen oder sogar bis ins
Flugzeug zu kommen? Ich will ja nicht sagen, dass all diese Menschen Böses im Sinn haben, aber es ist doch bedrohlich, denn die Zeiten haben sich geändert und auch die Zusammensetzung der Flüchtlinge. Auf Lesvos ankern keine großen Schiffe mit Hunderten von Flüchtlingen, wie es auf Teneriffa geschieht. Hier kommen sie in kleinen lecken Booten. Manche gelangen dann per Anhalter in die nächste Ortschaft, wo sie dann von der Polizei aufgelesen und in ein Flüchtlingslager gebracht werden. Taxifahrern ist es
untersagt, sie mitzunehmen, aber hier in Molyvos nutzen sie einfach den Bus nach Mytilini. Tja, und dann gibt es da noch all die, die es nicht schaffen, dramatische Einzelschicksale, von denen in den Zeitungen nichts zu finden ist. Der Sturm in der letzten Woche hat die Strände gesäubert. Die vielen Schlauchboote, die stillen Zeugen der Flüchtlingsflut der letzten Zeit, sind weggespült. Jetzt, wo der Winter vor der Tür steht, werden es weniger werden, obwohl, den richtig Verzweifelten wird es egal sein, wie
stürmisch und kalt das Meer ist... sie werden ihr Leben riskieren. Obwohl mir bewusst ist, welch Dramen sich auf dem Wasser abspielen, bin ich doch glücklich, wieder die Sicht auf die blaue Ägäis zu haben. Klar, man kann sagen, dass Lesvos ein kleines in Vergessenheit geratenes Eiland ist, aber derzeit wird auch hier wieder Geschichte geschrieben. Flüchtlinge oder nicht, ich blicke hier über ein Gewässer, das seit Jahrhunderten von Göttern, griechischen Helden, Piraten und Flüchtlinge überqueren, um sich auf den
Weg in ein neues Leben zu machen. Copyright ©Julie Smit 2006
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