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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
17.Juli 2006 -
Mythen
Aus
dem Englischen von Gabriele Podzierski
Können Sie sich vorstellen, dass Touristen nach Lesvos kommen und sich langweilen? Es gab Leute hier, die ihre Reiseleitung anriefen und stöhnten: „Wir langweilen uns dermaßen und wollen heim. Wann geht der nächste Flieger?“ Ein deutsches Ehepaar mit Kind war echt der Gipfel: Sie landeten auf der Insel, wurden ins Hotel nach Skála Eressoú gebracht, und nachdem sie 5 Minuten in ihrem Zimmer verbracht haben, wollten sie schleunigst wieder fort. Sie haben die Insel am selben Abend verlassen...
Zugegeben, Lesvos ist eine Insel, die einem bestimmten Menschenschlag nicht soviel zu bieten hat. Hier gibt es keine kilometerweiten goldgelben Sandstrände, an denen man den ganzen Tag, Cocktails schlürfend, verbringen kann. Auch wird man hippe In-Restaurants vergeblich suchen. Lesvos hat viele kleine Familienstrände und lauschige Buchten, an denen man umfangen wird von Ruhe und nicht von Musik, die quäkend aus Lautsprechern dröhnt. Die Insel wartet
nicht mit berühmten Stätten aus der Antike auf, so wie z.B. die Akropolis in Athen, der Palast von Knossos auf Kreta oder gar das weiße Dörflein Lindos mit seinem Tempel auf Rhodos. Lesvos hat Molyvos, den versteinerten Wald und dazu eine überwältigende Natur und viele entzückende echt griechische Dörfer. Es ist nicht nur eine Sage, dass die Insel zur Zeit der Römer dank ihrer Wälder und der idyllischen Obstgärten ein sehr beliebtes Ferienziel war. Lesvos steht nicht sehr hoch auf der Liste der Mythologie.
Achilles jedoch soll Palamedes, seinen Freund und archaischen Krieger, hier begraben haben, nachdem er auf dem Schlachtfeld vor Troja gefallen ist. Auch wird erzählt, dass Achilles zuvor vor den Toren Molyvos stand, die Königstochter sich in ihn verliebte und die Tore geöffnet haben soll. Sie wurde alsdann wegen Hochverrats hingerichtet. Dann gibt es da noch den Mythos von Orpheus, dem begnadeten Dichter, Musiker und Sänger: Nachdem dieser von eifersüchtigen Nymphen ermordet wurde, weil er den Tod seiner Ehefrau
Eurydike nicht überwinden konnte und nur noch den Umgang mit Männern pflegte, wurde sein Kopf, zusammen mit der berühmten Lyra, an den Strand des alten Ántissa gespült. Noch heute sollen seine bittersüßen Melodien über die Insel klingen. Lesvos liegt nahe an Troja. Wahrscheinlich hätte man zur Zeit des Krieges von Molyvos aus der Schönen Helena zuwinken können, der Frau des Menelaos, die Paris mit in seine Heimat nahm. Dieses unverzeihliche Verhalten war Ursache für eine jahrelange Belagerung Trojas durch mehrere
griechische Stämme. Mit etwas Phantasie kann man sich schon vorstellen, was es für ein unbeschreibliches Gedränge auf dem Meer gegeben haben muss. Ich bin mir sicher, dass, wenn der Wind günstig stand, der Duft von brutzelnden Schweinen am Spieß von den Schiffen aus nach Lesvos wehte, und, glauben Sie mir, da gab es bestimmt mehr als einen Krieger, der nach Lesvos kam um Proviant und Frauen zu kaufen. Teilstücke der Schlacht um Troja wurden um 750 v. Chr. von Homer in der Ilias festgehalten, jedoch nicht in so
schönen Worten, dass ein jeder Zugang zu dem Geschriebenen findet. Der italienische Schriftsteller Alessandro Barrico hat die Ilias mit seinen eigenen Worten neu erzählt, so dass man diese mythischen Geschichte nun selbst am Strand locker weglesen kann. Mal ehrlich, gibt es einen besseren Ort für diese Lektüre über Troja, Helden, Götter, Halbgötter, ihre Streitereien und Kämpfe, als dort an dem Meer, wo damals wirklich ihre Schiffe segelten und mit Blick auf die Berge, hinter denen ihre Zeltlager aufgerichtet waren.
In „The songs for the Kings“ (Die Königslieder) von Barry Unsworth geht es um einige griechische Könige, die mit ihren Legionen versuchten, das Schlachtfeld von Troja zu erreichen, davon aber von den Göttern der Winde abgehalten wurden. Dieses Buch ist noch humorvoller, aber ich vermute, dass Barrico nicht so weit gehen konnte, ohne dass er sich über das Werk Homers lustig gemacht hätte. Internationale Herausgeber haben ein Projekt ins Leben gerufen, bei
dem weltweit Schriftsteller aufgerufen werden, ihre Version eines Mythos niederzuschreiben. Die Engländerin Karen Armstrong eröffnet die Reihe mit „A short History of myth“ in besonders charmanter philosophischer Manier. Armstrong wird auch „Die Nonne, die fortlief“ genannt, weil sie einige Zeit hinter Klostermauern verbrachte. Nun ist sie berühmt durch ihre publizierten Werke über das Christen- und Judentum sowie den Islam, und bewundert wird sie als Brückenbauerin zwischen diesen Religionen. Für diejenigen
unter Ihnen, die leichte Lektüre bevorzugen, ist in vorgenannter Buchreihe „Penelope“ erschienen. Die erfolgreiche Schreiberin Margaret Atwood schrieb diese Geschichte über die Ehefrau von Odysseus. Viele, viele Jahre wartete Penelope auf die Rückkehr ihres Mannes, belagert und bedrängt von allerhand Männern, die sie freien wollten. Keiner glaubte mehr daran, dass Odysseus jemals lebend heimkehren würde, nachdem er zunächst vor Troja kämpfte und dann noch jahrelange Irrfahrten und Abenteuer bestehen musste, die ihm die Götter beschert hatten.
Wissen Sie noch, warum Atlas die Welt auf seinen Schultern trug? Die Antwort darauf und damit eine sehr eigensinnige Interpretation über Atlas, finden Sie in dem Buch „Weight“ (Gewicht) der englischen Schriftstellerin Jeanette Winterson. Sie langweilen sich auf Lesvos? Nachdem Sie Molyvos, Skála Sikaminéas, Agiássos, Plomári besucht und den Versteinerten Wald besichtigt haben, auf einem Esel geritten und auf Jeep-Safari gegangen sind, in den heißen
Quellen entspannt, durch die Berge gewandert und sich an Sardinen oder anderen Köstlichkeiten gelabt haben, können Sie Ihre Zeit damit verbringen, dass Sie etwas über die Historie lesen und in diese alte Zeit versinken. Israel begann den Krieg, weil einige Soldaten gekidnappt wurden. Die Entführung der Schönen Helena war der Anfang für den 10-jährigen Trojanischen Krieg. Sie sehen, es hat alles schon einmal gegeben, nichts Neues unter der Sonne... Doch, wohl: Menschen langweilen sich auf dieser Insel. Es ist nicht zu glauben. Copyright ©Julie Smit 2006
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