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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
18.April 2006 -
Lernen Sie die Klassik kennen
Aus
dem Englischen von Gabriele Podzierski
Vor 2 Wochen erhielt ich von einer treuen Leserin (Vielen Dank Edwina Green!) das Buch von Betty Roland „Lesbos, the pagan island“ („Lesvos, die heidnische Insel“). Im Jahr 1961 lebte diese Schriftstellerin einige Monate hier auf Lesvos und hielt ihre Erlebnisse in diesem Buch fest. 2 Jahre später wurde es in Australien veröffentlicht. Nach 45 Jahren, also fast nach einem halben Jahrhundert, scheint sich die Insel kaum verändert zu haben, abgesehen davon, dass eine Menge mehr Menschen und Häuser
dazugekommen sind. Die Sehenswürdigkeiten der Insel sind auf jeden Fall dieselben geblieben, wie im Jahr 1961: Das mittelalterlich anmutende Molyvos, das Bergdorf Agiássos, das alljährlich am 15. August Maria Himmelfahrt begeht, das Taxiarchis-Kloster bei Mandamados, Agios Paraskevi mit dem traditionellen Stieropferfest und dem abschließenden Pferderennen und der „Versteinerte Wald“ bei Sigri.
Mit Molyvos hat die Schreiberin nicht so gute Erfahrungen gemacht, zumindest, was ihre Unterkunft betraf. Nachdem sie aus einem Appartement wegen mangelnder Privatsphäre ausgezogen war, war es ihr unmöglich, eine neue Bleibe zu finden, obwohl so viele Häuser unbewohnt waren. Letztendlich war sie gezwungen, nach Mytilini zurückzukehren , wo sie ohne Probleme eine entzückende Wohnung fand, in der sie dann bis zu ihrer Abreise wohnte. Es ist wirklich ein interessantes Buch, zumal man viel wieder
erkennt. Die Straßen sind unverändert und genauso schlecht wie damals, obwohl viele davon mittlerweile asphaltiert sind. Neben einigen wenigen Griechen, lebten damals nur 2 englisch sprechende Ausländer in Molyvos, Mr. Kester und Helmut, ein Deutscher. Es gab nur eine Taverne, und genau wie heute, strömten im Sommer die Touristen ins Dorf, obwohl das erste Hotel noch nicht eröffnet war. Aber natürlich haben sich auch einige Dinge verändert. Betty Roland beschreibt zum Beispiel Eftalou als einen
Platz, an dem 10 – 12 Häuser direkt am Meer, inmitten von Walnussbäumen, standen. Wo sind die Bäume heute? Und wo sind die Krokusse, die, wie Sie schreibt, im Frühling in Molyvos blühten? Meines Wissens kann man diese nur in den Bergen finden. Nun, kann ja sein, dass Sie da einige Blumensorten durcheinander bringt. Das Buch hält weitere Überraschungen bereit: Betty Rolands Weg führte am Golf von Gera vorbei. Hier, so hatte man ihr erzählt, ging Odysseus nach der Schlacht von Troja mit seinen
Schiffen vor Anker. Er bestieg die Hügel, um den berüchtigten Zyklopen zu sehen. Der Zyklop Polyphemus, der einäugige Menschenfresser, überwältigte jedoch ihn und seine Männer, hielt sie in seiner Höhle gefangen, melkte zunächst seine Ziegen und plante dann, die Mannschaft nach und nach zu verzehren. Durch eine List, gelang Odysseus und dem Rest der Männer die Flucht, und unversehrt von einem riesigen Felsbrocken, den Polyphemus ihnen hinterher schleuderte, segelten sie aufs Meer hinaus. Nun, und dieser Felsen soll nun irgendwo am Golf von Gera zu sehen sein... Keine Ahnung!
Ich durchstöberte das Internet nach mehr Informationen, fand aber nichts, was diese Geschichte bestätigt. Vielmehr habe ich bei dieser Gelegenheit sehr Interessantes über alten Wein erfahren: Odysseus servierte dem Zyklopen Wein, um dessen Sinne zu betäuben. Danach war es dann ganz einfach, ihm mit einer glühenden Lanzenspitze das einzige Auge auszustechen. Zu Zeiten Odysseus waren die bekanntesten Weine die der Inseln Thassos, Lesvos, Chios und Naxos. , wer weiß, vielleicht war es der Wein von Lesvos, der es
möglich machte, den Zyklopen zu betäuben und zu überwältigen. Troja ist nicht so weit von Lesvos entfernt, so dass es nur logisch ist, dass nach der Eroberung und Zerstörung dieser Stadt, Helden und Krieger auf die Insel kamen. Selbst Homer schrieb in der Odyssee, dass sich Menelaos in der Nähe von Lesvos zu der Armee von Mykene gesellte, um zu beratschlagen, wie man in die Heimat zurück kommen konnte. Bevor Odysseus nach Lesvos kam und auf den Zyklopen traf, musste er zunächst seine Abenteuer auf
der Insel der Lotosesser bestehen. Aber sehen wir es mal so, Homer kam von der Nachbarinsel Chios. Somit ist es doch wohl höchstwahrscheinlich, dass er sich von der unbeschreiblichen Schönheit der Insel Lesvos für seine Geschichten über die Abenteuer des Odysseus inspirieren ließ. Was er nicht gewusst haben kann, war, dass der Golf von Gera zu dem sicheren Fluchtpunkt von mächtigen Piraten wurde, unter ihnen die gefürchteten Barbarossa-Brüder. Kann sein, dass das dieselben Piraten waren, die einst
das Kloster von Mandamados zerstörten. Das dortige Taxiarchis-Kloster erlangte seine Bekanntheit durch die Ikone des Erzengels Michael. Die Überlieferungen berichten, dass dieses Werk von einem Mönch geschaffen wurde, der als Einziger den Angriff von Piraten auf das Kloster überlebte. Betty Roland hat eine andere Version über die Ikone: Das Bergdorf Mandamados wurde so erbaut, dass es hinter den Hügeln sicher vor etwaigen Piraten war, die ihre Übergriffe von See aus planten. Eines Tages jedoch, überwältigten die Seeräuber einen Bauern, der außerhalb seines Dorfes auf dem Feld arbeitete, und sie
zwangen ihn, die Lage des Dorfes preiszugeben. Das Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht und seine Bewohner getötet. Nur dem Bauern, der seine Heimat verraten hatte, schenkten sie das Leben. Voller Reue, über sein Tun, und Gram über die Zerstörung und das Massaker, was er dadurch indirekt angerichtet hatte, malte er ein Antlitz auf den Felsen, mit Augen, die immer zu weinen schienen. Später, als das Dorf neu aufgebaut wurde, bewahrten und schützten die Bewohner das Bildnis, indem sie zunächst eine Mauer und dann eine Kirche drum herum errichteten. Aber das Antlitz verfolgte die Menschen bis in ihre
Träume, und so schnitten sie es aus dem Stein heraus und fertigten eine Ikone an. Von diesem Tage an, begannnen die Wunder: Lahme konnten wieder gehen, Blinde wieder sehen, und bis zum heutigen Tag, werden kranke Menschen zum Taxiarchis-Kloster gebracht, in der Hoffnung, dass ein weiteres Wunder geschehen möge. Und so ist Lesvos, und ich vermute mal, auch all die anderen Inseln, voller Geschichten, die erzählt, in Büchern festgehalten und von Generation zu Generation überliefert wurden und werden.
Was ich mich allerdings frage, ist, warum Betty Roland den Titel „Lesvos, die heidnische Insel“ wählte. Auf der Insel traf sie mit vielen geistlichen Männern zusammen, sie verbrachte sogar eine Nacht hoch in den Bergen, im Ypsilou-Kloster. Man kann über Lesvos vieles sagen, aber auf gar keinen Fall ist diese Insel heidnisch. Die Landstriche sind voll von kleinen strahlendweißen Kapellen, und man hat nicht aufgehört, weiter und weiter allüberall auf der ganzen Insel neue Kirchen zu errichten. Und
am nächsten Wochenende, an dem das Orthodoxe Ostern begangen wird, muss man sehr, sehr lange auf Lesvos nach einem Griechen suchen, der dann nicht die Kirche besuchen wird. Copyright ©Julie Smit 2006
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