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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
Polygonale Mauer in Delphi
14.Dezember 2009 - Mauerfall
Aus dem Holländischen/Englischen von Gabriele Podzierski
Vor
sehr sehr langer Zeit, bevor unsere Zeitrechnung begann, gab es einen
Baustil auf Lesvos, mit dem die Insel über alle Grenzen hinaus bekannt
wurde und der selbst von Aristoteles nicht unerwähnt blieb: Die
„Polygonalen Lesvotischen (eigentlich „lesbischen“, was ich vermeide –Anm.der
Übersetzerin) Mauern“. Eine Sehenswürdigkeit ist heute noch die
Stützmauer aus diesen unregelmäßigen Steinen der Tempelterrasse in
Delphi, die aussieht, wie ein schillerndes Mosaik. Auch bei Ausgrabungen
in der antiken Stadt Xanthos, der früheren Metropole von Lykien (nahe
des heutigen Antalya in der Türkei) stieß man auf eine solche
Steinbegrenzung.
Das
Besondere an solch einer Mauer ist, dass ihre Erbauung von Archäologen
sofort zeitlich auf das 7. bzw. 6. Jahrhundert vor Christus festgelegt
werden kann. Erkennen kann man die mehreckigen Steine aus Lesvos daran,
dass ihre Kanten meist krumm und schief sind. Na, da haben die Maurer
was zu tun gehabt: Kein Stein passte auf den anderen, ein jeder hatte
seine eigene Form und sein eigenes Maß – ein Puzzlespiel! Welch ein
Suchen durch all die Vielfalt von Steinen mit all ihren
unterschiedlichen Krümmungen und Kanten, bis es dann doch irgendwie
zusammenpasste oder mit dem Meißel passend gemacht wurde. Letzteres aber
auch wieder ein Kunststück, denn allzu oft brach dabei zuviel ab, und
die Fugen mussten dann mit kleineren Steinchen geschickt aufgefüllt
werden.
Fakt ist, dass eine solche Mauer mit Steinen und Baumeistern aus Lesvos
schon zu damaliger Zeit Luxus war. Also, nur um sein Grundstück zu
markieren, wurde eine solche Mauer nicht in Auftrag gegeben, sondern
eher um einem Heiligtum oder einem bedeutende Bauwerk den entsprechenden
Rahmen zu geben.
Natürlich hat man auch auf Lesvos diese besonderen antiken steinigen
Abgrenzungen gefunden, wie z.B. an der Akropolis in Eressos, in
Mytilini, im Hafen von Molyvos, in Xirokastrini (bei Paraklia). Die
besterhaltenste Mauer der Insel steht in Apothiki. Der Archäologe Nigel
Spencer hat sich den Kopf darüber zerbrochen, warum und wofür diese
Mauer gerade dort gebaut wurde, in einer im Altertum unbedeutenden
Ortschaft, gelegen mitten im Nirgendwo, weit weg, von den 6 Städten, die
in der Antike Rang und Namen hatten, nämlich: Arisve (heute ein Vorort
von Kaloni), Mytilini, Eressos, Mithymna (heut meist Molyvos genannt)
und Antissa. Baute man früher wirklich solch Begrenzungen, nur um den
Nachbarn fernzuhalten? Nicht ganz so abwegig, wenn man weiß, dass die
Stadtstaaten von Lesvos damals oft im Krieg miteinander standen. So hat
Mithymna Arisve angegriffen, und ein Zeitzeugnis der vielen Fehden
zwischen Mythimna und Mytilini ist die romantische Hirtengeschichte
„Daphne und Chloe“ (s.Lesvos News. vom
9.2.2008), geschrieben von dem vermutlich von Lesvos stammenden
Schriftsteller Longos.
Aber nicht nur die Mauer bei Apothiki verwirrte den Archäologen Spencer,
sondern auch die Überreste zahlreicher Türme, die er im Westen und in
der Inselmitte entdeckte und die augenscheinlich weder von militärischen
noch von landwirtschaftlichen Nutzen waren. In seinem Buch „ Time,
tradition and society in Greek archaeology” äußert er vorsichtig seine
Vermutung, dass man mit diesen Bauwerken ganz einfach bei seinen
Nachbarn Eindruck schinden wollte, was er sich bei der Mauer in Apothiki
jedoch nicht vorstellen kann, diesbezüglich tendiert er doch dahin, dass
damit ein bedeutendes Heiligtum geschützt werden sollte.
Sind die meisten der antiken lesvotischen Polygonalmauerwerke auch
inzwischen verloren gegangen, so ist die Insel nach wie vor reich an
Mauern, die ebenfalls vom Verfall bedroht sind. Ja, genau: Ich meine die
für Lesvos typischen, so faszinierenden Trockensteinmauern, die sich
mäanderförmig durch Berg und Tal schlängeln, als Trennung zwischen
Besitztümern und Befestigung von terrassenförmig angelegen Obst- und
Olivenhainen dienen und Tiere von den Ländereien fernhalten sollen.
In
der Studie von Thanasis Kizos und Maria Koulouri „Agricultural landscape
dynamics in he Mediterraean: Lesvos (Greece), case studying evidence
from the last three centuries” wird die These dargelegt, dass diese
Trockensteinmauern nach und nach verschwinden werden. Erfüllen sie
derzeit zwar noch ihren Zweck, so nagt doch der Zahn der Zeit an ihnen
und sie werden weder gepflegt noch repariert, nein, Mensch, Schaf und
Ziege treten sie im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen. Sie haben
sicherlich schon – wie ich – bewundernd festgestellt, dass diese Mauern,
ganz ohne Verwendung von Bindemitteln gemauert wurden, eine Arbeit, die
heutzutage kaum noch jemand beherrscht. Somit ist die Reparatur sowohl
ein kostspieliger als auch ein steiniger Weg: Zunächst muss erst einmal
so ein rar gewordener Baumeister gefunden werden, dann ist es zumeist
nötig, die gesamte Mauer erst einmal einzureißen, um sie dann wieder
aufzubauen, und dann steht man vor dem Problem, dafür ebenfalls
erforderliche „neue“ Steine zu beschaffen. Da diese Baukunst verloren
gegangen ist, hat man Alternativen gefunden, die zwar nicht so einen
Charme haben, aber....: Betonwände oder Draht- und Bretterzäune. Die
armen Bauern wissen sich auch zu helfen und ihre Abzäunungen bestehen
aus alten Bettgestellen, ausgemusterten Türen, Autoteilen und sonstigem
Sperrmüll. Aber auch diese „Kunst“ ist vom Aussterben bedroht, denn
langsam aber sicher erkennen die Griechen glücklicherweise, dass Abfall
keinen Platz in ihrem so zauberhaften Landschaftsbild mehr hat.
Tja, und so wird sich die Kulturlandschaft von Lesvos, einst verziert
mit polygonalen Mauern und immer noch geprägt von hunderten von
Trockensteinmauern, langsam verändern: Mehr und mehr Häuser werden
gebaut, Ackerbau und Viehzucht werden zurückgehen und die
terrassenförmig angelegten Haine verwildern. Fazit: Schlussendlich wird
irgendwann eines Tages eine mauerfreie Landschaft entstehen...
Copyright ©Julie Smit 2009 |