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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
Der
Erdbeerbaum
10.November 2008 -
Herbstfarben
Aus
dem Holländischen/Englischen von Gabriele Podzierski
Ich
denke, dass die Touristen unsere Insel viel zu früh im Jahr verlassen.
Sind doch gerade für die Wanderfreunde der Oktober und November so
wunderbare Monate hier. Ich weiß nicht, ob es an der vorausgegangenen
Trockenheit liegt, aber besonders in diesem Herbst zeigen die Sträucher
und Bäume außergewöhnlich leuchtende Farben. Sie sind so ausdrucksstark,
dass Lesvos derzeit ohne weiteres mit den Ländern mithalten kann, die
für ihren farbenprächtigen „Indiansummer“ bekannt sind.
Auf
einer Wanderung von Anemotia, die uns vorbeiführte an den berühmten
gelben Rhododendren (diese Azaleen bezeichnet man hier, aus mir
unerklärlichen Gründen so), stoßen wir auf Bäume, deren Blattwerk
dermaßen orangegelb, kirschrot und leuchtendgelb strahlt, dass es schier
in den Augen schmerzt. Dann, in den Wäldern, wo die Ruhe nur durch das
Rascheln des Herbstlaubes gestört wird, und in denen man das Stöhnen des
Windes schon hört, wenn er noch Kilometer entfernt in den Berggipfeln
bläst, kriechen die Rhododendren wie Girlanden von den Hängen, hinein in
den dunklen Kiefernwald und leuchten, statt, wie früher im Jahr, mit
ihren Blüten, mit ihren gelben Blättern.
An
der Baumgrenze, dort wo die Kiefernwälder enden und die angelegten
Olivenhaine beginnen, ändert sich das Bild. Dunkelgrüne Erdbeerbäume
protzen um die Wette mit ihren roten bauchigen Früchten, wie geschmückte
Christbäume. Ja, Sie lesen richtig: Bäume, die Erdbeeren tragen! „Arbutus
unedo“ ist der wissenschaftliche Name des Erdbeerbaumes (Übersetzt aus
dem Lateinischen „Ich esse nur eine“), der in vielen Mittelmeerländern
vorkommt. Die Frucht, die wirklich aussieht, wie eine kugelrunde
Erdbeere, kann Farben von gelb über orange bis zum leuchtenden Rot
tragen. Roh gegessen, schmeckt sie leicht erdbeerig, hat aber einen
mehlig-bitteren Nachgeschmack und hinterlässt einen trockenen Mund.
Hervorragend geeignet ist sie zur Herstellung von Marmelade, und in
manchen Ländern preist man den daraus gewonnenen Likör.
Es
ist das Klima, was der mediterranen Landschaft im Winter einen
besonderen Reiz schenkt: Viele Bäume behalten ihr kräftiges sattes Grün.
Pinien, Zypressen, Lorbeer- und Erdbeerbäume, ja, und nicht zu
vergessen, die silbrig schimmernden Millionen von Ölbäumen, die in der
faszinierenden Natur von Lesvos dominieren. Dennoch, auch das kann nicht
verhindern, dass, wenn man hier lebt, man im Herbst eine Sehnsucht
verspürt, nach Bäumen, die ihre farbenprächtigen Kleider anziehen, um
sich dann nach und nach knisternd zu entblättern, nach Spaziergängen
durch tanzendes raschelndes Laub, mit diesem einzigartigen Geruch nach
feuchter Erde, Pilzen und verrottenden Blättern. Tja, und wenn dieses
Heimweh einen übermannt, dann kann man dieses Sehnen stillen, indem man
sich aufmacht nach Ágii Anagiri, einem malerischen Ort, einer Quelloase
in einem Tal direkt bei Assómatos, mit einem Kirchlein und einer
Taverne, deren weitläufige Terrassen einladend winken. Leider öffnet sie
nur im Sommer ihre Türen, aber jetzt sind es die haushohen Platanen, die
Ihnen Spaß und Freude schenken, mit einer dicken Schicht ihres
leuchtendgelben Laubes, in dem sie nach Herzenslust herumtollen können.
Nehmen Sie die Straße von Ágii Anagiri nach Assómatos, ob zu Fuß, oder
mit dem Auto, führt ein Pfad zu dem Sanatorium oberhalb von Agiássos.
Der Weg geht hoch, durch die Berge, und die gegenüberliegenden steilen
Hänge, an der anderen Seite des Tales, sind wie saftig grüne massige
Wogen, in denen Kastanien- und andere Laubbäume gelb leuchtende
Farbtupfer setzen. Ein unglaublich schönes, schier atemberaubendes
Landschaftsbild, wogegen sogar das orangegelbe Glühen des
Kastanienwaldes zu dieser Jahreszeit etwas verblasst (der Kastanienwald
befindet sich ein wenig hinter dem Sanatorium).
Die
riesigen Kastanienbäume haben bereits einige Tonnen von ihren Früchten
abgeworfen, und der Boden wurde teilweise von dem hohen Blattwerk
befreit, wahrscheinlich für das Kastanien-Fest, was am vergangenen
Wochenende in Agiássos stattfand. Eine Veranstaltung, die alljährlich
die Menschen von allen Teilen der Insel zusammenströmen lässt, um die
Kastanien zu kosten und bei Musik und gutem Essen ihre Ernte gemeinsam
zu feiern. Dieses Mal war es jedoch lange Zeit gar nicht so sicher, ob
die Veranstaltung stattfindet, denn die Gemeinde hatte arge Probleme,
die dafür erforderlichen Kosten von 3.000 Euro aufzubringen. Endlich,
vor 2 Wochen, war das Geld aber zusammengerafft, und so konnten auch in
diesem Jahr die Besucher wieder fröhlich anlässlich der Festivitäten
durch die engen Gassen des Bergstädtchens flankieren, Freunde und
Verwandte treffen und ausgiebig in den berstendvollen Tavernen feiern.
In
der Hauptstadt der Insel, wurde etwas ganz anderes gefeiert, obwohl ich
mich frage, ob mit solch überschwänglicher Freude, wie in Agiássos.
Der
8. November 1912, war der Tag der Befreiung von Mytilini, und das
Militär und Schulkinder marschierten zum Gedenken daran, wie ein jedes
Jahr, durch die Straßen. In diesem Jahr nahm sogar der Staatspräsident
Griechenlands, Karolos Papoulias, an den Feierlichkeiten teil und wurde
bei dieser Gelegenheit gleich zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.
Er
war nicht der einzige hohe Besuch, der Lesvos an diesem Wochenende die
Ehre gab. Auch die Außenministerin, Dora Bakoyannis, kam auf die Insel,
unter anderem, um an einer Konferenz teilzunehmen, welche die nicht
enden wollenden Flüchtlingsströme zum Thema hatte, die Lesvos und das
gesamte Land überfluten. Und noch, während die Honoratioren sich die
Köpfe heiß redeten, wie man bessere Bedingungen für die Asylsuchenden
schaffen könnte, musste die Küstenwache schon wieder Segel setzen und
auslaufen, um eine 40-köpfige Gruppe von Männern, Frauen und Kindern in
einem zu kentern drohenden Boot aus der Seenot zu retten.
Vielleicht haben einige dieser Menschen Glück und sie kommen in das
Sanatorium von Agiássos, das zur Zeit als Asylantenheim dient. Dort
könnten sie dann inmitten von goldig leuchtenden Kastanienbäumen sitzen,
auf farbenprächtige Berghänge blicken und in 20 Minuten Fußweg das
pittoreske Städtchen Agiássos erreichen. Aber, ob Sie die Schönheit der
Natur in ihrer Situation wirklich so erkennen können? Ich habe sie
gesehen, wie verzweifelt sie dort durch die Gassen laufen, obwohl schon
etwas rüstiger, wie auf der Straße von Eftalou, wo sie noch durchnässt,
frierend und erschöpft vom Seeweg sind. Aber, trotz alledem, denke ich
schon, dass, wenn man aus einem Land geflohen ist, wo einem die Kugeln
um die Ohren sausen und knapp neben einem Bomben explodieren, die Wälder
um Agiássos, wo man nur das ploppende Geräusch der fallenden Kastanien
hört, erstmalig die Möglichkeit zum Durchatmen auf dem langen Weg in ein
besseres Leben schenken.
Copyright ©Julie Smit 2008 |