BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
Das Meer
zwischen Griechenland und der Türkei
23.September 2008 -
Flüchtlingsströme
Aus
dem Holländischen/Englischen von Gabriele Podzierski
Seit diesem Sommer glaube ich nicht mehr an eine Erderwärmung.
Vielleicht trifft diese Prophezeiung auf den Nordpol zu, aber die Erde
wird sich hier auf Lesvos bestimmt nicht erwärmen. Der Sommer war kühl,
die Hitzewellen blieben aus, das Meer konnte in diesem Jahr die
Temperaturen der vergangenen Sommer nicht erreichen, und inzwischen
macht es den Anschein, als habe der Winter bereits jetzt im September
Einzug gehalten: Innerhalb einer Woche fiel das Thermometer um die
Hälfte, auf 17 Grad!
Letzten Mittwoch öffnete der Himmel seine Schleusen und eine Wasserflut
stürzte auf das Land. In den folgenden Tagen folgten diesem Nass weitere
Regenschauer. Schon sitzen winterliche Wolken am Himmel, und ich muss
wirklich an mich halten, damit ich nicht stets einen Blick auf den
Gipfel des Lepetimnos werfe, um zu schauen, ob dieser vielleicht schon
schneebedeckt ist.
Trotz des abrupten Ende des Sommers, ist Lesvos nicht menschenleerer
geworden. Zwar verlassen die Touristen die Insel vom südöstlich
gelegenen Flughafen Mytilini, im Nordosten jedoch erreichen
Schlauchboote das Ufer und schwemmen eine Flut von Flüchtlingen an.
Einige besonders geschäftstüchtige Türken sind dazu übergegangen,
Gummiboote einzukaufen, in denen 20 Personen Platz finden, und wenn man
bedenkt, dass bisher von dort nach Lesvos Boote eingesetzt wurden, die
für 4-6 Menschen geeignet waren, erweist sich dies als sehr lukrativ:
Immerhin zahlt ein Flüchtling 5.000 Euro für eine Überfahrt, und somit
kann ein Schleuser sich für jeden Trip ohne Aufwand 100.000 Euro in die
Tasche stecken.
Aber die griechischen Inseln haben inzwischen die Nase gestrichen voll
von den ungebetenen Gästen, die mehr und mehr ihr tägliches Leben
stören. Letzte Woche drohte Patmos damit, den Hafen für Asylbewerber zu
schließen. Das Inselchen hat 3.000 Einwohner, und seit Anfang des Jahres
sind bereits 4.000 Flüchtlinge dort angekommen. Größtenteils wurden sie
von den Menschenschmugglern auf der fast unbewohnten Nachbarinsel
Agathonissi abgeladen. Sind sie dann auf Patmos, müssen diese Menschen
darauf warten, einen Transfer zu einem Eiland bekommen, das über ein
Auffanglager verfügt. Es bedarf wenig Phantasie, um sich vorzustellen,
dass es im Hochsommer ein schwieriges Unterfangen ist, ein
entsprechendes Boot für eine solche Aktion zu finden. Die
Notfall-Unterkunft auf Patmos, geschaffen in einer früheren Diskothek,
war in der Hitze des Sommers eine Zumutung, und Flüchtlingsströme
drängten sich durch die engen Gassen des Dorfes Skala, bettelnd um
Wasser und Nahrung.
Auch Samos schrie in diesem Monat um Hilfe. Das Auffanglager, das erst
in diesem Frühjahr für rund 280 Flüchtlinge eröffnet wurde, beherbergt
mit 500 Flüchtlingen inzwischen fast doppelt soviel Menschen, wie
eigentlich vorgesehen. Außerdem ist die Küstenwache total überfordert
und braucht dringend Verstärkung, um die notwendigen Patrouillen
durchführen zu können.
Das
Flüchtlingszentrum von Lesvos, nah bei Mytilini, platzt ebenfalls aus
allen Nähten und wurde in diesem Sommer von Menschenrechtsorganisationen
heftig kritisiert. Tja, Kritik zu üben, ist immer leicht, aber: Wer
macht die skrupellosen Menschenschmuggler denn endlich dingfest? Wer
trägt dafür Sorge, dass niemand mehr illegal sein Land verlassen muss?
Und wer hilft den überforderten griechischen Inseln jetzt dabei, den
immer größer werdenden Strom von Menschen aufzufangen, die Zuflucht an
ihren Küsten suchen?
Am
katastrophalsten ist die Lage in der Hafenstadt Patras. Regelrechte
Slums sind hier entstanden, in deren Müll die Flüchtlinge hausen und auf
die Möglichkeit hoffen, sich auf einem Laster oder einer Fähre
verstecken zu können, um so unbemerkt das „gelobte Land“ zu erreichen.
Die
griechische Regierung verspricht den Bau neuer Flüchtlingszentren und
beschwert sich bei den europäischen Mitgliedsstaaten, dass Griechenland
ein solch großen Grenzabschnitt von Europa bewachen muss, was aber in
keinem Fall konstruktiv ist. Die Hilfeschreie von den Inseln, die
menschenunwürdigen Zustände dort und in Patras und die negativen
internationalen Medienberichte gehen jedoch ungehört unter in den
Pressestimmen über die nationalen Skandale.
Es
ist kein Geheimnis, dass Griechenland sich nur allzu gern Wortgefechte
mit der Türkei liefert, aber dieser Enthusiasmus blieb aus, als nun
bekannt wurde, dass türkische Düsenjäger nicht nur illegal griechische
Grenzen überfliegen sondern die Küstenwache des Nachbarlandes sogar
Flüchtlinge auf den griechischen Inseln aussetzt.
Es
ist noch kein Jahrhundert her, seit sich die Inseln Griechenlands
letztmals einem solch gewaltigen Flüchtlingsstrom ausgesetzt sahen. In
den Jahren 1922 und 1923, nach dem Griechisch-Türkischem Krieg, mussten
1,5 Millionen Griechen unfreiwillig aus der Türkei umsiedeln (zum
Vergleich: 500.000 Ottomanen mussten damals aus Griechenland zurück in
die „neue“ Türkei).
Smyrna
Besonders in Smyrna, dem heutigen Izmir, spielten sich bei dieser
Ausweisung grausige Szenen ab, aber auch wenn man die aktuellen Bilder
vom Flüchtlingslager in Patras sieht, kann man nicht unberührt bleiben
und so manch einem treibt es Tränen in die Augen.
Patras
Derweil möchte die griechische Regierung diese Camps dem Erdboden gleich
machen, und so ist es gut, dass es noch Griechen und internationale
Hilfsorganisationen gibt, die alles daransetzen, diese Unterkünfte zu
erhalten.
Ob
Sommer oder Winter, der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab, doch die
Passage von der Türkei nach Griechenland ist nur ein kurzes Stück einer
langen ungewissen Reise...
Copyright ©Julie Smit 2008 |