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BOULEVARD
NEWS AUS LESVOS
Plati mit einem Turm vom Kastro Kydonies
5.Januar 2010 - Archäologisches Recycling
Aus
dem Holländischen/Englischen von Gabriele Podzierski
Die
Südstürme, die seit Jahresbeginn Boote, Bäume, Gebäude und Straßen
beschädigten oder gar zerstörten, haben sich endlich beruhigt. Die
Wellen in Eftalou, die mit meterhohen Fontänen brutal gegen den
Boulevard schmetterten, haben sich mit ihren weißen Schaumkronen
zurückgezogen und geben den Blick darauf frei, wo und wie viel Arbeit
nun wartet, um all die Löcher in der Straße und in den Mauern zu
reparieren, die teilweise (wie auch an der Küstenstraße in Pétra) ins
Meer gefallen sind. Vom Hotel „Olive-Press“ sind 2 Zimmer regelrecht
weggespült und das Dach erheblich beschädigt worden, die Terrasse am „Delphinia-Strand“
teilweise verschwunden. Und jetzt strahlt der Himmel unschuldig blau,
als sei nichts gewesen: Das Jahr 2010 kann nun endlich beginnen, möge es
für uns alle ein glückliches werden und weiterhin viele Entdeckungen und
erfreuliche Überraschungen bereithalten, so wie die, für uns sehr
bedeutsame, vom Jahresende: „A Gazetteer of Archaeological sites in
Lesbos“, geschrieben von Nigel Spencer (Tempvs Reparatvm Publishing,
Oxford, England). Endlich hat sich ein Wissenschaftler darangegeben,
alle archäologischen Funde auf Lesvos aufzulisten und so wurde unsere
Ahnung bestätigt, dass die Insel voll ist von alten historischen
Schätzen. Nehmen wir nur die „Kalderimi und Monopati“, die antiken Fuß-
und Eselspfade, Jahrhunderte von Jahren alt schlängeln sie sich immer
noch durch die Landschaft, auch wenn sie ihre Funktion als
Verbindungswege verloren haben, da ein Großteil der Dörfer, Burgen und
Häfen mittlerweile verschwunden sind. Natürlich gingen auch im Laufe der
vielen, vielen Jahre auch einige von ihnen verloren, aber nicht über
Nacht, wie bei den jüngsten Stürmen, Teile heutiger Straßen.
Ein
Kalderimi war nicht nur ein mit großen Steinquadern gepflasterter
Fußpfad für die Bauern, die mit ihren Eseln darüber trotteten, sondern
auch ein wichtiger Weg, der zwei bedeutende Stätten miteinander verband.
Nicht alle davon sind heut noch intakt, sind überwuchert, verschwunden,
mit Asphalt bedeckt oder gar in eine moderne Straße umgewandelt worden,
und die meisten, von denen, die noch bestehen, scheinen nirgendwo
hinzuführen. Tja, und jetzt kommt das fantastische Ortsverzeichnis von
Nigel Spencer ins Spiel, mit denen man erkennen kann, dass es diese
antike Pfade waren, die zu den bedeutsame Plätzen führten und man kann
ihnen folgen, hin zu archäologischen Ausgrabungsstätten, alten
Friedhöfen, verfallenen oder zerstörten Dörfern und historischen Burgen.
Die
3 Burgen, die ihre Zinnen noch stolz in den Inselhimmel recken, stehen
in Molyvos, Sigri und Mytilini, hatten früher ernsthafte Konkurrenz. Es
scheint, als hätte es an der nordöstlichen Küste von Lesvos einige
solcher Festungen gegeben, denn Mauerreste, manche noch meterhoch
erhalten, stehen noch als Zeitzeugen der Vergangenheit dort. Wenn Sie
gut zu Fuß sind, können Sie z. B. östlich von Klio die Fundamente einer
riesigen Burg bewundern, und dann gibt es da auch noch das Plateau,
oberhalb von Nées Kidoniés, ebenfalls zu Fuß zu erreichen, und zwar über
unbeschreiblich landschaftlich reizvolle Kalderimes. Ist man Ziel, hat
man die Hochebene erreicht, wo einst das berühmte Kastro Kidoniés
thronte. Unter den Trümmern fand man Scherben aus dem alten Troja und
einen Turm, der noch heute zu sehen ist.
Es
wird vermutet, dass sich das antike Dorf Kidoniés einst in unmittelbarer
Nähe der Burg auf dem Plateau befand, bis dann, Ende des 16. oder Anfang
des 17. Jahrhunderts, es wahrscheinlich ein schweres Erdbeben war, das
beides zerstörte. Die Bewohner verließen daraufhin die Insel und
siedelten sich am gegenüberliegenden Ufer in der Türkei an. Sie
gründeten das „Neue Kidoniés“, was heute den türkischen Namen Ayvalik
trägt. Die Siedlung entwickelte sich in ein lebendiges Städtchen,
inzwischen ein Einkaufseldorado für die Bewohner von Lesvos.
Um
Zeichen und Beweise dafür zu finden, dass es antike Stätten tatsächlich
gegeben hat, ist es nicht erforderlich, dass Sie hier den Boden umgraben
und in der Erde wühlen, es reicht, wenn Sie alten Mauern und Häusern
ihre Aufmerksamkeit schenken, denn manche von ihnen, auch die
Begrenzungswälle, die Weiden und Olivenhaine von Lesvos zieren, sind mit
Steinen gebaut, die einst ein Teil von Burgen und Siedlungen waren.
So
ist in der Umgebung von Plati die Hochebene dafür bekannt, dass man dort
die besten „Bausteine“ sammeln kann. Dort liegen sie unzählig herum, und
nicht nur alte Exemplare, sondern auch neue, groß wie Wassermelonen,
scheinen diesen Früchten gleich, aus der Erde zu sprießen, reif für die
Ernte.
Manchmal mach ich mir schon Gedanken und ärgere mich ein wenig über die
Bewohner von Lesvos, die ihre Geschichte einfach so verwahrlosen oder
verschwinden lassen. Die Griechen hier haben keine schlaflosen Nächte
oder ein schlechtes Gewissen, weil sie für den Eigenbedarf mal wieder
irgendetwas aus archäologischen Materialien gebaut haben. Es ist keine
Seltenheit, dass man z.B. Säulenteile eines antiken Tempels, ganz
kunstvoll in die Wand eines neuen Hauses integriert sieht. Der Zerfall
von ungeschützt daliegenden antiken Überresten dauert an, und wenn es
nicht ein Erdbeben ist, dass antiken Baustoff freilegt, so muss man nur
lange genug warten, denn irgendwann bringt es die Zeit mitsich, dass die
Gebäude verwittert in sich zusammenfallen. Nur ein Beispiel ist das
einst so stattliche türkische Badhotel in Thermi, das langsam aber
sicher zu Bauschutt verfällt. Eigentlich kann man es den Bewohnern von
Lesvos ja gar nicht verdenken, dass sie antike Baumaterialien
wiederverwerten, denn unzählig sind die verlassenen Häuser und Gebäude
die auf Lesvos stehen, eins älter als das andere.
Man, was war Lesvos im vergangenen Jahrhundert für eine arme Insel. Die
Bevölkerung war nur allein damit beschäftigt, irgendwie vom Ackerbau und
der Schafs- und Ziegenzucht zu überleben. Da gab es nun mal kein Geld,
um Steine für ein Haus oder eine Scheune zu kaufen, und so fand all das
Verwendung, was das Land so hergab, archäologisches Recycling eben. Was
wird das ein nettes Rätsel für Archäologen, die in weiter Zukunft einmal
auf Lesvos ein Haus aus dem 21.Jahrhundert ausgraben werden, errichtet
mit Steinen aus der byzantinischen Zeit.
Lesvos lag lange Zeit an der belebten Handelsroute, die vom südlichen
Mittelmeer zum Schwarze Meer führte. Die Insel war eine Brücke zwischen
der Ägäis und Anatolien und dadurch so wohlhabend, dass man es nicht
nötig hatte, alte Materialien zu verwenden. Von überall auf der Welt
ließ man nur die besten Baustoffe anliefern, und darum verwundert es
mich immer wieder, dass Archäologen hier seltener zu finden sind, wie
alte Burgen. Nigel Spencer hat mit seiner Publikation, einen Versuch
gemacht, diese Fachleute auf die Insel zu ziehen, weil auf Lesvos ja nun
mal wirklich eine reiche Geschichte verborgen liegt. Ich teile seine
Hoffnung und auch die, dass bei den Bewohnern endlich Interesse und
Verantwortung für die jahrhundertealte Vergangenheit geweckt werden
kann, damit sie zukünftig die antiken Steine dort liegen lassen, wo sie
sind.
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