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BOULEVARD-NEWS LESVOS
Wolkenreicher Sonnenuntergang am Golf von Kalloni
10.September 2014 - Das
Wolkentheater
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Als ich am Morgen direkt nach dem Aufstehen vor die Tür
trat, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: Wohin ich auch blickte,
ob hin zum Meer oder hoch hinauf zu den Bergen, es war nicht ein
einziges Wölkchen am Firmament zu sehen. Sollte dieser Tag wirklich
einer der wenigen wolkenlosen in diesem Sommer sein?
Wolken entstehen ja, wenn die Luftfeuchtigkeit so hoch
ist, dass sich durch den Wasserdampf in der Atmosphäre feine
Regentropfen oder Eiskristalle ansammeln. Sie führen ein recht
eigenwilliges Leben, können ziemlich unerwartet um die Ecke kommen und
lassen sich nicht so recht in die Karten schauen. So erwähnte ich
gestern bei einem Quätschchen am Telefon, dass jeden Moment Regen
einsetzen würde, da ich gerade eben riesige grummelnde Blumenkohlwolken
aus der Türkei gesehen hatte, welche die Küste unserer Insel angriffen.
Nachdem ich den Hörer auflegte und nach draußen ging, waren die
Angreifer jedoch verschwunden und hatten sich in die türkische
Landschaft zurückgezogen. Nun glauben Sie mal nicht, ich hätte
stundenlang telefoniert, diese Episode spielte sich innerhalb einer
Viertelstunde am Himmel ab.
Das Theaterstück „Wolken aus der Türkei“ ist keine
Neuaufführung. Mehrere Male im Sommer kann man diese Inszenierung
genießen: Grummelnde Unwetterwolken nehmen Kurs auf Lesvos und ziehen
sich dann in Windeseile wieder zurück, ohne auch nur ein einziges
Tröpfelein Regen freigegeben zu haben. In einer anderen Version jedoch
ist zu sehen, wie diese voluminösen Massen einen Angriff der
überraschenden Art durchziehen, indem sie einen Platzregen vom Stapel
lassen, der Sie in Sekundenschnelle von oben bis unten durchnässt, ohne
Ihnen auch nur die geringste Chance zu geben, irgendwo in Deckung gehen
zu können. Ha, und so schnell wie dieser Spuk vorbei ist, so schnell
sind auch die Wolken verschwunden, und ein strahlendblauer Himmel über
Ihren Köpfen lässt Sie das soeben Erlebte infrage stellen.
In diesem Sommer war das Wolkentheater in Griechenland
ziemlich aktiv, doch so manch ein Tourist wusste die vielen
Vorstellungen bis Mitte Juni, die in dieser Zeit von Regen begleitet
wurden, nicht wirklich zu schätzen. Auch im Juli und August gingen die
Vorführungen weiter: Die Wolken machten sich immer noch am Himmel breit,
etwas gelangweilt aussehend, jedoch - ja, so wie Kinder es sind -
immer für eine Überraschung gut, und so gab es sogar in diesen Monaten
mehrfach Regen, was nun wirklich mehr als ungewöhnlich für einen
griechischen Sommer ist.
Tja, und vor ein paar Wochen wurde sogar eine besondere
Nachtaufführung feilgeboten, die für Lesvos beispiellos war: Nun, ich
war mit Freunden in Vafios essen, und auf dem Heimweg runter in Richtung
Molyvos erblickten wir bedrohliche dunkle Wolken in Form von länglichen
kralligen Greiffingern, die unser Dorf umfingen. Zunächst befürchteten
wir einen Großbrand irgendwo, aber je näher wir Molyvos kamen, umso mehr
spürten wir eine unfassbare immense kondensierte Feuchtigkeit: Wolken,
die scheinbar vom Himmel gefallen waren… Nein, es war nicht diese Art,
die vom Meer her das Land überrollt, wie Seedampf, sondern diese Wolken
kamen geheimnisvoller Weise irgendwie aus der Insel selbst und
verschlangen zunächst das Kastell und dann das gesamte Städtchen! In
Molyvos angekommen, konnten wir die Hand vor Augen nicht mehr sehen, und
die Menschen, die schemenhaft zu erkennen waren, liefen völlig verwirrt
umher, nicht begreifend, was da gerade geschah: Molyvos schien Drehort
für eine Szene des berüchtigten Films von John Carpenter „The fog –
Nebel des Grauens“ zu sein. Sie kennen ihn sicherlich, diesen
Horrorstreifen aus dem Jahre 1980, in dem ein Küstendorf nicht nur von
dichtem Nebel belagert wird, sondern auch von den Geistern einiger
Seeleute, die bei einem Schiffsbruch ums Leben gekommen sind. (Anm. der
Übersetzerin: „Brrrr.., ich krieg jetzt noch Gänsehaut).
Na, einen spektakuläreren Schlussakt für die Saison
konnte das Wolkentheater doch wohl nicht haben, aber was machen die
Intendanten? Verlängern die Spielzeit, und zwar mit größerem Ensemble:
Seit Monatsbeginn scheinen sich die Wolkenansammlung multipliziert zu
haben, ihre Kostüme haben noch bedrohlich wirkende grau-schwarze Farben
und sie bieten atemberaubende Aufführungen an zufälligen Schauplätzen,
so z.B. in Ayii Anargyri. Als ich Freunden dieses Fleckchen Erde zeigte,
wurden wir Zuschauer einer solch starken Gewitter-Darbietung, die mich
glauben ließ, dass der Berg Olympos aus Lesvos für einen Vulkanausbruch
engagiert worden war. Der inszenierte Klangeffekt war dermaßen gewaltig,
dass mir noch Tage danach das Trommelfell dröhnte. Die Schau saß in den
Bergen fest und fesselte uns notgedrungen fast zwei Stunden lang an eine
kleinen örtliche Taverne. Tja, und als die Vorstellung vorbei war und
wir eine halbe Stunde später an der Küste ankamen da erwartete uns – Sie
ahnen es sicherlich – ein wolkenfreier Himmel als Kulisse…
Das Wolkenensemble hat sich noch tagelang über Lesvos
aufgehalten und sich überall dort behörlich entfaltet. Es raubte
Touristen den Verstand, die dem Schlecht-Wetter-Theater am Anfang der
Saison entflohen sind und nun bei einem zweiten Besuch eine wolkenfreie
Zeit erleben wollten. Der eingesetzte Regen weckte die Schnecken unsanft
und viel zu früh aus dem Sommerschlaf, ist es doch sonst der erste
Herbststurm, Ende September/Anfang Oktober, der sie aufwachen und
schlaftrunken auf die Wege kriechen lässt, wo sie von den Einheimischen
gierig gepackt, um im Eintopf verarbeitet zu werden. Just zu diesem
Zeitpunkt sollen diese Tierchen am besten schmecken.
Der Hochgenuss beim sommerlichen Wolkentheater sind die
vielen atemberaubenden Sonnenuntergänge, die es mit sich bringt.
Versinkt die Sonne ohne Mitwirken der Wolkenstatisten im Meer, so ist
die Vorstellung doch eher langweilig, und es sind doch gerade die
Wassermassen, die für ein spektakuläres farbenprächtiges Bühnenbild
sorgen, wenn der Tag sich verabschiedet. Selbst der letzte „Supermond“,
dieses gigantische Naturphänomen, das in diesem Sommer dreimal zu sehen
war, konnte in Konkurrenz zum Wolkentheater nicht recht begeistern.
Gestern prangte er wieder groß und hell, in gelber Farbe am Nachthimmel
über der Insellandschaft, aber die Abendsonne, die als leuchtende
orangefarbene Kugel umrahmt von bunten Wolken in der Ägäis versank,
stahl ihm die Schau.
Die Sardinen scheinen vom Wolkentheater nicht so recht
begeistert zu sein, denn die Suche nach ihnen im Golf von Kalloni
gestaltete sich in diesem Sommer äußerst schwierig, und die meisten
ausgeworfenen Netze blieben leer, was zur Folge hatte, das eines meiner
Lieblingsgerichte, „sardelles pastès“ (gesalzene Sardinen in Öl), mehr
eine Seltenheit im Angebot der Tavernen war. Waren es wirklich die
Wolken, die sie dieses Jahr abgehalten haben, sich im Golf zu tummeln,
da es doch eigentlich nur richtig Spaß macht, wenn die Sonne ihre
silbernen Mäntelchen funkeln lässt? Oder haben gar hungrige Delphine am
Eingang des Golfs gewacht, um sich an dieser Delikatesse zu laben? Fakt
ist, dass in diesem Jahr weniger Konserven mit einer Spezialität von
Lesvos gefüllt sein werden, mit diesen köstlichen gesalzenen Sardinen
aus Kalloni.
Inzwischen sind nun doch einige Wolken am Himmel
aufgezogen, solche von der netten unschuldigen Sorte, treffend
Schafswolken genannt, und ich hoffe, dass sie den Auftakt geben für
einen schönen wolkentheaterfreien Spätsommer und Herbst: „Kalo ftinopero!“
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