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BOULEVARD-NEWS LESVOS
Stumme
Zeugen…
8.Juni 2015 - Wer sind sie?
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Während in Molyvos die freiwilligen Helfer erneut Berge von Broten für
Flüchtlinge schmieren (heute sind 200 dort angekommen, wie viele dann
wohl insgesamt auf der Insel?), frage ich mich, wer diese Menschen
wirklich sind.
Laut dem „Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen“ (UNHCR), kommen 60%
von ihnen aus Syrien und der Rest aus Afghanistan, dem Irak, Somalia und
Eritrea.
Was
kam bei ihnen auf den Tisch, bevor sie ihr Heimat, Haus und Herd
verlassen mussten? Im Laufe der Jahrhunderte war es immer so, dass
Flüchtlinge, Einwanderer und Gastarbeiter kulinarisch Einfluss auf die
jeweilige Landesküche nahmen und sie vielfältiger machten. Neben den
traditionellen Gerichten in Holland, England und Deutschland z.B. kommen
doch schon lange Pizza, Souvlaki, Kebab, Couscous, Hummus, Saté, etc.
auf den Tisch.
Es
ist nicht neu, dass die griechischen und italienischen Küsten von
Flüchtlingen überschwemmt werden. Ein Blick zurück in die Geschichte
(z.B. unter
history´s refugee) zeigt, dass es schon immer und überall
Menschen gab, die ihr Land verlassen mussten, von dort vertrieben
wurden. Gerade im 20. Jahrhundert kam es zu wahren Völkerwanderungen,
mit enormen kulturellen und kulinarischen Auswirkungen in den
beteiligten Ländern. Eigentlich finde ich ja die traditionelle
holländische, deutsche und englische Küche etwas langweilig, aber wenn
ich auf Rezepte aus Afghanistan, Syrien, Somalien, Eritrea und dem Irak
stoße, dann läuft mir schon beim Lesen das Wasser im Mund zusammen und
ich brenne nahezu darauf, sie zuzubereiten. Was für phantasievolle,
überraschende und köstliche Variationen hat die Migration in
Jahrhunderten geschaffen!
Für
mich liegt Griechenland am Kreuzpunkt der nordeuropäischen und
arabisch-afrikanischen Küche. Einmal den gemäßigten nördlichen Charakter
und auf der anderen Seite eine reiche Tradition an saisonalen Früchten
und Gemüse sowie einer Palette an Kräutern. Je weiter südlich man in
Griechenland kommt, umso mehr Gewürze verfeinern die Speisen.
Kürzlich habe ich einen Artikel gelesen, der vor ca. 6 Jahren verfasst
wurde. Es geht darin um einen amerikanischen Journalisten, der mit
Anissa Helou, einer berühmten arabischen Köchin, durch Damaskus und
Aleppo (Syrien) spaziert und mit ihr Gespräche über die Köstlichkeiten
der Landesküche führt. Die farbenfrohen Märkte waren voll mit Menschen
und strahlten Gastfreundschaft aus…da gab es noch keinen Krieg, der das
Land nun an den Rand des Zusammenbruchs geführt hat, da gingen die
Menschen noch aus zum abendlichen Essen oder die Frauen bereiteten
herrlich duftende Gerichte daheim in ihren Küchen zu, wie z.B., ähnlich
der griechischen Küche, Zucchiniblüten oder Kohlblätter, gefüllt mit
würzigem Reis und/oder Lammhack. Und jetzt? Jetzt kommen diese Frauen in
wackeligen ausgedienten Booten an den Stränden unserer Insel an, kaum
Habseligkeiten im Gepäck und schon gar nicht irgendein Kochgeschirr...
Wie
arm die Menschen in Afghanistan nach jahrelanger Kriegsführung auch sein
mögen, so kommen ihre Speisen doch aus einer sehr reichen Küche,
unterwandert von mongolischen, chinesischen, indischen, europäischen und
nahöstlichen Einflüssen. Typisch sind z.B. „Mantoo“ (eine Art Tortellini)
und „Kofta“ (ähnlich unseren Frikadellen, würziger als die griechischen
„Keftedes“).
In
der Nähe meines Hauses steht ein Orangenbaum, der jedoch bittere Früchte
trägt, die sich meiner Kenntnis nach nur für die Zubereitung von
Marmelade eignen. Tja, und kürzlich entdeckte ich ein Rezept, das mich
eines Besseren belehrte:
"Norinj Palau", Reis mit Orangen, und zwar gerade diesen
Bitterorangen, Mandeln, Pistazien, Huhn, usw., alles Zutaten die hier in
der Griechischen Küche gang und gäbe sind.
Kommen wir zur Küche des Iraks, die sich kaum von der in anderen
arabischen Ländern unterscheidet, jedoch den Vorteil hat, dass die
mächtigen Ströme Euphrat und Tigris durch das Land fließen und somit
Süßwasserfische die Speisekarte aufwerten. Auch die Iraker füllen - wie
die Griechen - Filotteig-Taschen („Börek“ ) mit Ziegenkäse, Fleisch,
Gemüse oder Nüssen, servieren dazu eine Art Tsatsiki unter dem Namen „Cacik“,
nennen alle gefüllten Gemüse, wie Tomaten, Zucchiniblüten, Weinblätter,
Paprika, „Dolmas“, und, wie überall in der arabischen Küche, verwöhnt
man sich mit den köstlichen zuckersüßen Baklava-Desserts.
Dass auch die Irakische Küche tief in der Geschichte verwurzelt ist,
können Sie, wenn es Sie interessiert, in dem Blog „In my Iraqi Kitchen“
von Nawal Nasrallah nachlesen.
Auch die Eritreische Küche unterliegt Einflüssen aus anderen Ländern,
wie z.B. osmanischen, italienischen und äthiopischen. Wussten Sie
eigentlich, dass 62,9% der Eritreer christlichen Glaubens sind und die
meisten von ihnen orthodox? Und dass sie auch ab und an gern einen Ouzo
trinken, nur das in ihrem Land dieses Anisgetränk „Arraki“ oder „Zibbib“
heißt.
Sowohl in Eritrea als auch in Somalia begleitet pfannkuchenartiges
Fladenbrot das Essen. Teffmehl ist die Grundlage für diese „Injera“.
Teff ist Zwerghirse, der Samen glutenfrei und reich an essentiellen
Fettsäuren und nicht nur das, übersetzt man seinen lateinischen Namen „Eragrostis
abyssinica“ so liest man: „Äthiopisches Liebesgras“!
Nun, beide Küchen haben so viel gemein, googeln Sie die Somalische
Küche, werden Sie erfahren, dass dort dieselben Einflüsse sind, wie in
der eritreischen. Ein Beispiel ist die Verwendung der scharfen
äthiopischen Gewürzmischung „Berbere“, welche den Speisen einen
herrlichen orientalischen Duft und Geschmack gibt.
Wie
weh muss das tun, seinen angelegten Kräutergarten, seine Gemüsebeete,
den Obstgarten mit Mandel- und Pfirsichbäumen, nun, seine liebevoll und
mühsam bestückten natürlichen Vorratskammern eben, die dazu beigetragen
haben, Familie und Freunde zu ernähren, hinter sich und damit verwildern
zu lassen? Wie bitter ist das, wochen-, monate- und vielleicht auch
jahrelang seine Lieblingsgerichte nicht mehr kochen oder gar eine
richtige Mahlzeit genießen zu können? Ich sehe sie jetzt gerade vor mir,
die Menschen, die Schreckliches durchmachen mussten, nun hier auf
Lesvos angekommen und einfach nur glücklich und dankbar sind, wenn sie
ein belegtes Brot serviert bekommen.
Glauben Sie mir, wenn ich könnte, wie ich wollte, so würde ich auf der
Stelle eine Raststätte an der Straße von Kalloni nach Mytilini eröffnen,
dort, wo die Flüchtlinge in Massen vorbeikommen und ich würde ihnen ihre
Speisen zubereiten: Gefüllte Tomaten, Weinblätter, Hummus,
Linseneintopf, Souvlaki und Tsatsiki, etc. Würde all diese Gerichte mit
Kräutermischungen verfeinern, so dass diese Menschen auf ihrem Weg in
eine ungewisse und unsichere Zukunft noch einmal Kraft aus dem so
vertrauten Geschmack und Geruch schöpfen können. Er ist doch noch so
weit, ihr Weg zu einem neuen Heim und dem eigenen Herd…
Anmerkung der Übersetzerin:
Liebe Leser, ich bin einfach nur überwältigt und gerührt von Ihrem
Zuspruch und Ihrer Anteilnahme und bedanke mich ganz herzlich für die
vielen Spenden, die auf dem Konto von "borderline-europe –
Menschenrechte ohne Grenzen e.V." angekommen sind. Ich werde
recherchieren und Ihnen mitteilen, wie diese den Menschen zugute
gekommen sind.
An
dieser Stelle möchte ich Sie wissen lassen, dass, sollten Sie auf die
Insel kommen, Kleidung und/oder Schuhe für die Flüchtlinge im Gepäck
haben, oder bei Ihrer Abreise diese Sachen spenden wollen, können Sie
die in Molivos bei „Arsos-Travel“ abgeben (unterhalb am Ortsausgang,
Richtung Eftalou) oder in der im Hafen gelegenen Taverne „Captain´s
Table“.
Nochmals DANKE
Gabriele Podzierski
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