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BOULEVARD-NEWS LESVOS
Mytilini, die Hauptstadt von
Lesvos
11. März 2017 – Via Mytilini
Aus dem Holländischen von Gabriele Podzierski
Der
niederländische Schriftsteller, Ilja Leonard Pfeijffer, wohnt im
italienischen Genua, aber er nennt diese Stadt in seiner Dokumentation
„Via Genua“ eine afrikanische Stadt. Es ist die neue Welt, in der
Immigranten und Einheimische ein Zusammenleben aufbauen müssen. Das wird
auch unsere Zukunft sein, denn der Flüchtlingsstrom scheint nicht
abzureißen. Aber die Geschichte zeigt, dass dies schon immer so war und
die Ursprungsländer unserer Vorfahren mannigfaltig sind.
Das
letzte Jahr brachte Lesvos hauptsächlich in die Schlagzeilen, weil
zigtausende von Flüchtlingen an die Strände gespült wurden, aber deshalb
kann man das Eiland trotzdem nicht Flüchtlingsinsel nennen, so wie
Pfeijffer Genua als afrikanische Stadt betitelt. Die vielen Menschen,
die ihre Heimat verlassen haben, besiedeln hauptsächlich Camps rund um
Mytilini. Die sich an den Häfen ausstreckende Hauptstadt ist immer noch
gekennzeichnet durch die einstige türkische Herrschaft und hat sich
inzwischen von einer Provinzstadt zu einer internationalen Metropole
entwickelt. Nicht nur allein Flüchtlinge aus allen Windrichtungen,
sondern auch ein bunter Zug an Helfern zieht durch die kurvigen Straßen
und füllen die gastronomischen Stätten. Nein, Mytilini kann sich noch
lang nicht an Genua messen, denn das griechische Leben geht nach wie vor
weiter seinen Gang mit den Studenten, die Cafés und Tavernen bevölkern
und den Zigeunern die ihre Hände bettelnd nach einem Euro ausstrecken.
Aber es ist bunter geworden in der Stadt, und das Angebot wird mehr und
mehr internationaler, wie z.B. das syrische Restaurant, das eröffnet
hat. Den russischen Shop, der hauptsächlich von russischen
Staatsbürgern aufgesucht wird, gibt’s jedoch schon seit Jahren.
Ohne Frage stehen die Zeichen auf Veränderung. Viele Bewohner haben
Arbeit bei nichtstaatlichen Organisationen (NRO) gefunden, oder haben
sich rund um die Flüchtlingslager Moria und Kara Tepe mit einem Geschäft
selbstständig gemacht. Standorte, wo tausende Menschen wohnen, die
Nahrung und Kleidung brauchen. Es ist ohne Frage ein riesiges Geschäft,
aber ich muss zugeben, dass mir die Übersicht fehlt. Fährt man entlang
der Camps, bekommt man angesichts der Massen an geparkten Autos den
Eindruck, als würden sich dort ebenso viele Helfer und Geschäftsleute
aufhalten, wie Flüchtlinge.
Es
gibt Flüchtlingshelfer, deren Hilfe ihr Beruf wurde: Wer kennt ihn
nicht, den 27-jährigen malaysischen Gourmet
Rayyan Haries, der, nachdem er den Bericht über den tragischen
Tod des kleinen Jungen
Alan
Kurdi sah, ins Flugzeug sprang (wie übrigens viele andere auch,
die ab diesem Tag kamen) und an der Nordküste von Lesvos, da wo der
größte Flüchtlingsstrom ankam, eine Kochstation errichtete. Nachdem der
größte Ansturm vorüber war, ging er wieder zurück in seine Heimat, aber
er hat die Insel nie vergessen und so kam er diesen Winter wieder und
bereicherte die Camps erneut mit seinem ansteckenden Lachen, Singen und
seinen fabelhaften Speisen. Sein Motto: „Nahrung ist Hoffnung“.
Kürzlich las ich das großartige Buch
"The bone sparrow" der australischen Grundschullehrerin und
Autorin Zana Fraillon. Auch wenn es eine erfundene Geschichte ist, gibt
der Inhalt einen beeindruckenden Einblick in das Leben in einem
Flüchtlingslager, in dem der größte Feind die Langeweile ist. Um diesen
zu besiegen, werden in den Camps von Lesvos Spielstunden für die Kinder
veranstaltet, zahlreiche Kurse angeboten und regelmäßige Ausflüge
organisiert. Eine der größten Herausforderungen ist jedoch, während des
monatelangen hilflosen Wartens ein menschenwürdiges Leben führen zu
können. Zwei junge Männer aus Syrien sind, soweit ich weiß, die ersten „Vlogger“
(Video-Blogger) der Insel. Die Zwillingsbrüder geben Einblick in ihren
Alltag mit all seinen Problemen und das mit einer guten Prise Humor:
Trefft
Basel & Murad in Moria.
Und
so zieht auch auf Lesvos die neue Welt ein, mit Flüchtlingen, Vloggers
und Helfern, aber, wie überall, ist es derzeit nur die Hauptstadt, die
das moderne Leben umarmt. Der Rest der Insel lebt noch mehr in der
Vergangenheit, angelehnt ans Mittelalter, mit anarchistischen Bauern,
die, zwar inzwischen ausgestattet mit Mobiltelefonen, immer noch das
tun, was ihre Vorfahren getan haben. Ok, die Autos haben die Esel fast
verdrängt, aber die Verkehrsregeln sind unverändert, und die Fischer
kreuzen das weite Meer nach wie vor in kleinen wackligen Holzbooten…
Nicht ganz Italien liegt im Bann der Flüchtlinge, genau so wenig wie
Lesvos voll von ihnen ist. Während neue Initiativen und die moderne Welt
langsam in die lebendigen Straßen von Mytilini sickern, hält der Rest
der Insel nach wie vor an seinem ursprünglichen traditionellen Leben
fest: Ein Stückchen Griechenland, das mehr und mehr seltener wird.
Julie Smit
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